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Gericht stärkt Wunsch- und Wahlrecht

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Gericht stärkt Wunsch- und Wahlrecht einer Klägerin, sich den Nahbereich mittels eigenes Muskelkraft auf einem Therapierad zu erschießen.
Gericht stärkt Wunsch- und Wahlrecht einer Klägerin, sich den Nahbereich mittels eigenes Muskelkraft auf einem Therapierad zu erschießen.
© Team Evelo / Pexels

Von Oliver Totter

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat im Oktober 2022 (Az.: L 9 SO 317/21) einer Klägerin Recht gegeben, die gegen die Ablehnung ihrer Krankenkasse zur Kostenübernahme für ein Therapiedreirad geklagt hatte. Das Gericht stärkte ihr Wunsch- und Wahlrecht sich den Nahbereich mit Muskelkraft zu erschießen.

Die Klägerin beantragte die Versorgung mit einem Therapiedreirad, um mit diesem Rad etwas mehr Teilhabe am sozialen Leben und Lebensqualität zu erlangen (Freunde besuchen, Ausflüge, Einkäufe). Ihre Gehfähigkeit ist dauerhaft sehr stark eingeschränkt. Nach Einschätzungen ihrer behandelnden Ärzte ist das begehrte Dreirad ein wichtiger Bestandteil des Gesamttherapiekonzepts. Ein Rollstuhl war für die Klägerin gesundheitlich nicht geeignet. Mit dem Therapiedreirad ist sie – anders als mit dem Auto oder dem Rollstuhl – nicht auf die Hilfe von Begleitpersonen angewiesen. Den grundsätzlich nutzbaren Elektroscooter wünschte die Klägerin nicht, da ein solches Gerät für sie zu passiv ist und sie nicht auf ein „offensichtliches Kranken-/Behindertenfortbewegungsmittel“ beschränkt sein möchte.

Die beklagte Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab. Das Therapiedreirad sei nicht als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 SGB V zu beanspruchen, denn es diene nicht der Erschließung des Nahbereichs. Für die Basisversorgung sei der Klägerin von der Krankenkasse ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt worden. Zusätzlich verfüge die Klägerin über ein Auto. Zur Erreichung der von der Klägerin benannten Teilhabeziele seien der Rollstuhl und das Auto ausreichend.

Das Landessozialgericht gab der Klage statt und verpflichtete die beklagte Krankenkasse zur Übernahme der Kosten für das Therapierad. Bei dem begehrten Therapiedreirad handelt es sich um ein Hilfsmittel. Es dient als Leistung zur medizinischen Rehabilitation dem Ausgleich einer Behinderung, § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Dies setzt voraus, dass es seinem Zweck entsprechend die Auswirkung der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dient. Das Therapiedreirad ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Fährräder in Form eines üblichen Zweirades sowie serienmäßig hergestellte Liegedreiräder sind allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Das beantragte Therapiedreirad dagegen ist ausschließlich auf die Bedürfnisse behinderter Menschen ausgerichtet und wird von Menschen ohne Teilhabebeeinträchtigung regelmäßig nicht benutzt. Das Therapiedreirad ist zum Ausgleich der Behinderung der Klägerin erforderlich.

Im Weiteren setzt der Behinderungsausgleich voraus, dass das Hilfsmittel der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens dient. Ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens ist aus Sicht des Landessozialgerichts das Erschließen des Nahbereichs der Wohnung. In diesen Nahbereich einbezogen ist zumindest der Raum, in dem die üblichen Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt werden. Hierzu gehören nach einem abstrakten Maßstab die allgemeinen Versorgungswege (Einkauf, Post, Bank) ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege (Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken) und elementare Freizeitwege. Der Behinderungsausgleich umfasst aber auch die Wahrnehmung von Grundbedürfnissen, die über den genannten Nahbereich hinausgehen. Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet, dass viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände eröffnet wird und dass die Selbstbestimmung gefördert wird. Das Landessozialgericht stellt klar, dass allein der Umstand, dass das Therapierad neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann, nicht bereits die Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Mobilität ausschließt.

Die Versorgung mit dem Rollstuhl scheidet aus, weil es sich dabei nicht um ein funktionell gleichwertiges Hilfsmittel handelt. Die funktionelle Gleichartigkeit mit dem begehrten Therapiedreirad ist bei dem ggfs. kostengünstigeren Elektroscooter, der nach der Art eines Elektrorollstuhls ohne jede Eigenaktivität des Benutzers fortbewegt wird, nicht gegeben.

Bei der Frage, ob die Klägerin auf die Nutzung eines Elektroscooter verwiesen werden kann, ist ihr Wunsch- und Wahlrecht zu beachten. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wird bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen.

Das Landessozialgericht weist darauf hin, dass Wünsche insbesondere dann berechtigt im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind, wenn sie nicht über die Bedürfnisse der Mehrheit der nichtbehinderten Menschen hinausgehen und daher sozialadäquat sind. Der Wunsch der Klägerin nach einem Hilfsmittel, das mit ihrer eigenen Muskelkraft bewegt wird, ist sozialadäquat. Der natürliche Wunsch, sich den Nahbereich mit Hilfe der eigenen Muskelkraft zu erschließen, besteht auch bei einem Großteil der nichtbehinderten Menschen. Es dient dem berechtigten Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens.

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