Im 26. März 2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft und hat den Rang eines Bundesgesetzes. Spätestens mit dem Inkrafttreten sind alle staatlichen Stellen in Deutschland dazu verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu ergreifen, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen Lebensbereichen sicher zu stellen. Während die Organisationen der Menschen mit Behinderungen schon damals eine schnelle Umsetzung forderten, sprachen viele Verantwortungsträger von einem „Generationenprojekt“, das nur nach und nach umgesetzt werden könne. Zwischenzeitlich sind 15 Jahre vergangen. Nach dem Maßstab des Zeitraums einer Generation ist damit „Halbzeit“ – und wir ziehen Bilanz unter Einbeziehung der Empfehlungen des Staatenprüfverfahrens der Vereinten Nationen.
Am 29. / 30. August 2023 fand die zweite Prüfung der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen statt. Am Ende des Staatenprüfverfahrens stehen die neuen „Abschließenden Bemerkungen zum 2. / 3. Staatenbericht
Deutschlands“ des Ausschusses, in denen dieser Empfehlungen und Forderungen an Deutschland richtet, wie die UN-BRK besser umgesetzt werden soll. Bund, Länder und Kommunen sind aufgerufen, sich der Umsetzungsaufträge in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich anzunehmen. Die Empfehlungen setzen damit wegweisende Akzente für die weitere Umsetzung der UN-BRK auch in NRW. Im Zentrum der Kritik des UN-Ausschusses an Deutschland steht das immer noch hochentwickelte System von Sonderstrukturen – in der Bildung, bei der Beschäftigung in Werkstätten oder bei der Unterbringung in großen stationären Wohneinrichtungen, mit der dringenden Empfehlung der Entwicklung und Umsetzung von zielgerichteten politischen Strategien zur Deinstitutionalisierung, damit Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Darüber hinaus bedürfe es deutlich strengerer gesetzlicher Vorgaben zur Umsetzung von Barrierefreiheit im privaten Sektor, etwa im Wohnungsbau oder im Gesundheitssektor. Zudem müsse die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen geachtet und Maßnahmen zu Zwangsvermeidung und Gewaltschutz in psychiatrischen Einrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe dringend verstärkt werden.
Die Prüfung der Vereinten Nationen hat deutlich gemacht, dass Deutschland nicht genug tut, um seine verbindlichen Verpflichtungen aus der UN-BRK zu erfüllen.
Wir erwarten, dass sich die Landesregierung NRW stärker für Inklusion und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen einsetzt und wirksame Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK gemäß den folgenden Ausführungen ergreift.
Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit in einem inklusiven Arbeitsmarkt. Diese Arbeit muss den Lebensunterhalt sichern und frei gewählt werden können.
Der Zugang zum Arbeitsmarkt funktioniert hochgradig selektiv und bleibt Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu oft verwehrt. Seit einem Jahrzehnt steigt die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen in NRW wieder an, auch gegen allgemein positive Trends. Menschen mit Behinderung sind nicht nur überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, auch Zahl und Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit unter ihnen ist gestiegen. Dabei liegt die Zahl der unbesetzten (fehlbesetzten) Pflichtplätze seit Jahrzehnten deutlich über der Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen. Vor allem viele private Arbeitgeber kommen ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht nicht oder nicht ausreichend nach.
Diese Entwicklung wird auch in den „Abschließenden Bemerkungen“ des Staatenprüfverfahrens
deutlich kritisiert. So zeigt sich der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unter anderem besorgt über:
Der Ausschuss empfiehlt daher:
All dies macht deutlich, dass es zur Annäherung an eine menschenrechtskonforme Erwerbsgesellschaft, die die freie Wahl des Arbeitsplatzes und die Sicherung des Lebensunterhaltes ermöglicht, einer inklusiven Neuordnung des Arbeitsmarkts bedarf. Dabei kann es aber nicht um die Eröffnung von Sonderarbeitsmärkten gehen, sondern um die Entwicklung einer Strategie und die Einführung von gezielten Maßnahmen, mit denen auch Menschen, die heute aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgesondert werden, einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten. Auch die NRW-Landesregierung muss sich endlich dieser Aufgabe stellen und zum inklusiven Umbau des Arbeitsmarkts beitragen.
Dafür sind als Sofortmaßnahme in der Landesbauordnung NRW bauliche Barrierefreiheitsanforderungen für Arbeitsstätten vorzugeben, unabhängig davon, ob bereits ein Mensch mit Beeinträchtigung beschäftigt wird. Zudem ist darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsstättenverordnung entsprechende bundesweite Regelungen vorsieht. Als weitere notwendige Maßnahmen zur Gestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes sehen wir Bereitstellung notwendiger Ausstattung sowie die Weiterentwicklung geeigneter Zugangs- und (technischer) Unterstützungsmöglichkeiten.
Die Landesregierung muss die Sichtbarkeit „unsichtbarer Behinderungen“ (psychisch und geistig Behinderte, Kommunikationsbehinderte, chronisch Kranke) herstellen und die Arbeitgeber darüber aufklären, welche Erfordernisse und konkrete Barrierefreiheiten auch für nicht ausschließlich
körperlich eingeschränkte Behinderte bestehen müssen. Dazu ist eine Informations- und
Aufklärungskampagne ins Leben zu rufen.
Wir fordern eine wirksame Landesinitiative zum Abbau der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen.
Ein zentraler Ansatzpunkt muss sein, Arbeitgeber dazu anzuhalten, ihrer gesetzlichen Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Menschen umfassend nachzukommen. Es gibt nur eine „Handvoll“ Budgets für Arbeit, von den Budgets für Ausbildung ganz zu schweigen. Das Land Nordrhein-Westfalen steht sicherlich vor dem Problem, keinen unmittelbaren Einfluss auf die entsprechenden bundesgesetzlichen Regelungen zu haben, dennoch kann es mit entsprechenden Informationsangeboten die Nutzung des Budgets für Arbeit unterstützen. Das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung müssen deutlich besser beworben werden und dieses arbeitsfördernde Mittel muss eine deutlich größere Aufmerksamkeit erhalten.
Damit Menschen mit Behinderung ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit sichern können,
muss aber auch über die Höhe der Werkstattlöhne und die Abschaffung der insoweit bestehenden
Ausnahmen vom Mindestlohn diskutiert werden. In diese Überlegungen sind selbstverständlich
auch die in den Werkstätten für behinderte Menschen Beschäftigten einzubeziehen.
Wir verweisen im Weiteren auf das vom Inklusionsbeirat im Frühjahr 2023 beschlossene Forderungspapier zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen, zu dessen Umsetzung wir die Landesregierung hiermit dringend ermahnen.
Menschen mit Behinderung haben genau wie alle anderen Versicherten das Recht auf eine
qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung, unabhängig von ihrem Wohnort und der Art der Beeinträchtigung. Der gleichberechtigte Zugang zu einer qualitativ hochwertigen gesundheitlichen Versorgung ist in der Praxis in NRW bisher bei weitem nicht realisiert. Die Landesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, ein „Maßnahmenpaket zur Förderung von Inklusion und Diversität im Gesundheitswesen“ aufzulegen, das bisher noch nicht erkennbar ist.
Auch der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigt sich unter
anderem besonders besorgt über:
Der Ausschuss empfiehlt Deutschland deshalb unter anderem:
Es fehlen in allen Sparten der haus- und fachärztlichen Versorgung barrierefrei auffindbare, zugängliche und nutzbare ambulante Praxen. Dies gilt ebenso für therapeutische Praxen (Psychotherapie,
Ergotherapie, Physiotherapie, Soziotherapie) sowie für weitere Gesundheitseinrichtungen. Auch in vielen Bereichen der stationären gesundheitlichen Versorgung ist die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen nicht im notwendigen Maße gewährleistet.
Im Rahmen der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen stellen wir immer
wieder fest, dass auch gerade die stationäre Versorgung eine unüberwindbare Hürde für die
Menschen mit Behinderung darstellt.
Wir fordern vor diesem Hintergrund, dass Rehabilitattion ein gleichrangiger Schwerpunkt der Gesundheitsversorgung wird. Es sind gerade Menschen mit Behinderungen und chronischen
Erkrankungen sowie ältere Menschen, die von fehlenden oder nicht barrierefrei erreichbaren oder nutzbaren rehabilitativen Angeboten besonders betroffen sind. Der Grundsatz der Rehabilitation vor und bei Pflegebedürftigkeit muss endlich verwirklicht und Angebote – vor allem der ambulanten Rehabilitation – flächendeckend gefördert werden.
Die Möglichkeit, eine Begleitperson ins Krankenhaus mitzunehmen, muss auf alle Menschen ausgedehnt werden, die aufgrund von körperlichen bzw. kognitiven Einschränkungen auf persönliche Assistenz angewiesen sind. Zugleich muss das Angebot psychotherapeutischer Versorgung
flächendeckend ausgebaut werden, um insbesondere Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz
zu reduzieren.
Uns ist bewusst, dass all diese Aufgaben nicht alleine in NRW lösbar sind. Jedoch muss die nordrhein-westfälische Politik und Selbstverwaltung des Gesundheitswesens im Zusammenwirken mit der Bundesebene wirksame Maßnahmen zur Gewährleistung einer flächendeckend bedarfsgerechten,
barrierefreien, wohnortnahen und qualitativ hochwertigen ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung treffen. Um dies zu realisieren, ist nicht zuletzt die Überwindung der verfestigten Versorgungsstrukturen in ambulant und (teil)stationär, auch in der Notfallversorgung, hin zu einer am Bedarf der Patient:innen orientierten, sektorenübergreifenden Planung der Gesundheitsversorgung notwendig.
Im Weiteren sei hier unter anderem verwiesen auf das in den Fachbeirat Gesundheit eingespeiste
Empfehlungspapier: „Barrierefreie Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen
aus Sicht der Selbsthilfe“.
Barrierefreiheit ist eine notwendige Voraussetzung, um das Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Leben und eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und gesundheitlichen Einschränkungen verwirklichen zu können. Gebäude, Verkehrssysteme, Dienstleistungs-, Informations- oder Kommunikationsangebote sind barrierefrei, wenn sie für alle Menschen auffindbar, zugänglich und nutzbar sind, so dass auch Menschen mit Behinderungen sie in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis nutzen können.
Das Behindertengleichstellungsgesetz NRW bekennt sich zu dieser Zielsetzung, und die UNBRK
verpflichtet Bund, Länder und Gemeinden zur Feststellung und Beseitigung vorhandener Barrieren und zur Gewährleistung von Barrierefreiheit.
Dies bestätigt auch der aktuelle Staatenbericht. So betont der UN-Fachausschuss in den Abschließenden Bemerkungen an diversen Stellen, dass Deutschland in zahlreichen Bereichen für Barrierefreiheit sorgen und angemessene Vorkehrungen für den Fall (noch) nicht vorhandener Barrierefreiheit bereitstellen soll. Dies betrift nicht nur öffentlich-rechtliche, sondern vor allem auch privatrechtliche Bereiche. So etwa für die Öffentlichkeit angebotene Dienstleistungen und Produkte, den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen sowie die Bereiche Bildung, Ausbildung, Arbeit, Verkehr, Informationen, Sport, Kunst, Kultur, Wahlen und Justiz. Hierbei kommt den Trägern öffentlicher Belange in den Bundesländern sowie den Kommunen, deren Einrichtungen und Unternehmen eine wichtige Vorbildfunktion zu.
Wohnen ist Menschenrecht. Und für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sind barrierefrei zugängliche und nutzbare Wohnungen nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Der aktuelle Mangel an Wohnraum in Nordrhein-Westfalen wirkt sich daher gerade auch auf Menschen mit Behinderung aus. So sind barrierefreie Wohnungen – bezahlbare zumal – nur selten verfügbar. Denn von einem ausreichenden Angebot an barrierefreien Wohnungen kann erst gesprochen werden, wenn der Mensch mit Behinderung aus seiner barrierefreien Wohnung auch in eine solche in einem anderen Ort seiner Wahl umziehen kann. Um dies perspektivisch erreichen zu können, muss barrierefreies Bauen zum allgemeinen Standard werden. Daher fordern wir weitere gesetzliche Verbesserungen in der Landesbauordnung und die Aufhebung von Ausnahmenregelungen in der „Verwaltungsvorschrift technische Baubestimmungen (VV TB)“. Dies muss bei Arbeits- und Ausbildungsstätten auch beinhalten, dass sie ohne aufwendige Umbaumaßnahmen für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen (z.B. beim Mobilitätseinschränkung oder Sinnesbehinderung) uneingeschränkt nutzbar sind. Auch fordern wir unter anderem die Aufhebung des § 39 Absatz 4 Bauordnung NRW, da die in § 39 Absatz 4 Bauordnung NRW geregelte Ausnahme von der Aufzugspflicht eine Barriere darstellt, die nach der UN-BRK zu beseitigen ist. Ebenso sind die Ausschlüsse zu „Warnen / Orientieren / Leiten“ bzw. „Alarmieren und Evakuieren“ zurückzunehmen – das Zwei-Sinneprinzip ist in diesen Bereichen unverzichtbar.
Wir fordern, dass die Vorgaben der Bauordnung NRW auch für genehmigungsfreie Bauvorhaben
gelten. Wir fordern die Pflicht zum barrierefreien Umbau bestehender Gebäude. Wir fordern, dass das Land Nordrhein-Westfalen für die Barrierefreiheit seiner Gebäude gemäß dem BGG NRW sorgt.
Die Einhaltung dieser Standards müssen endlich von den Bauaufsichtsbehörden qualifiziert überwacht und Verstöße als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass neue Gebäude in öffentlicher oder privater Hand, die für die Allgemeinheit bereitgestellt werden, von vornherein barrierefrei errichtet werden.
Die baulichen Gegebenheiten sind weit überwiegend vom Bestand geprägt und werden vom Neubau nur in geringem Umfang beeinflusst. Deshalb ist ein systematischer Barriereabbau im Bestand unumgänglich. Wir fordern das Land und die Kommunen auf, ihrer Verpflichtung zur Feststellung und schrittweisen Beseitigung bestehender Barrieren endlich nachzukommen. Hierzu bedarf es einer verbindlichen landesrechtlichen Regelung.
Nach der UN-BRK müssen auch pflegebedürftige Menschen die gleichberechtigte Möglichkeit haben, ihren Wohn- und Lebensort zu wählen und zu entscheiden, mit wem sie leben. Sie dürfen nicht verpflichtet sein, in gesonderten Wohnformen zu leben. Um dies zu verwirklichen, bedarf es neben barrierefreiem Wohnraum auch der erforderlichen ambulanten Pflege- und Unterstützungsangebote, einschließlich persönlicher Assistenz. Zudem müssen Angebote zur gesundheitlichen Versorgung und zur Deckung alltäglicher Lebensbedarfe barrierefrei und quartiersnah erreichbar sein. Eine quartiersorientierte kommunale Stadtentwicklungs- und Infrastrukturplanung muss diesen Erfordernissen regelhaft Rechnung tragen.
Wir fordern eine bedarfsgerechte Vergabe von gefördertem Wohnraum, insbesondere für Menschen
mit Körper-, Sinnes- und geistigen Beeinträchtigungen. Wir können insoweit das Land nur ermutigen, weiterhin über die NRW Bank den Bau von barrierefreiem Wohnraum zu fördern und dies durch entsprechende Förderprogramme zu begleiten. Hierbei sprechen wir uns für die Förderung von ambulanten Wohnsettings und kleinen Wohneinheiten in den Wohnformen aus. Wir widersprechen der Auffassung des Landes NRW aus, dass Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit 24 Wohneinheiten (zzgl. Krisenzimmer) eine angemessene Wohnform sind. Kleinere Wohneinheiten müssen zur Standard- und nicht zur Ausnahmeregel werden. Grundsätzlich muss es eine Wahlmöglichkeit für die Menschen mit Behinderung geben. Wir fordern darüber hinaus, den Ausbau von ambulanten Unterstützungssettings wie der 24/7 Begleitung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.
Wir fordern vom Land Nordrhein-Westfalen, dass es selbst die Vorgaben aus dem Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW) vollständig umsetzt und dafür sorgt, dass dies auch die weiteren staatlichen Organisationen tun, für die das BGG NRW gilt (vgl. § 2 IGG NRW). Wir stellen immer wieder fest, dass es gerade im Bereich von privaten Anbietern keinen wesentlichen Fortschritt bei der Umsetzung der Ziele der UN-BRK, der Beseitigung der Barrieren, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen gibt. Wir fordern deshalb die Ausweitung des BGG NRW auf private Anbieter wie es auch im Rahmen einer Novelle des BGG auf Bundesebene geplant ist. Dabei sollte die rechtliche Definition „angemessener Vorkehrungen“ gemäß Artikel 2 des Übereinkommens geschärft werden.
Von einer Erreichung des im Personenbeförderungsgesetz gesetzten Ziels, wonach der ÖPNV bis zum 01.01.2022 barrierefrei sein sollte, sind wir in NRW weit entfernt. Davon zeugen vielerorts insbesondere fehlende oder kaputte Lifte, zu hohe Einstiegshöhen oder fehlende Hilfen für Menschen mit Sinnesbehinderungen. Dies umfasst nicht nur die gerade genannten Forderungen, sondern auch, die Barrieren für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder mit Hörbeeinträchtigungen zu beseitigen. Davon abgesehen muss das Land aber auch für eine tatsächlich flächendeckende Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln sorgen, da diese für viele Menschen mit Behinderungen eine der Voraussetzung für die selbstbestimmte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist. Die örtlichen und regionalen Nahverkehrsträger sind gefordert, Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr unverzüglich umzusetzen. Dazu muss auch das Land seine Anstrengungen erhöhen, die Kommunen bei der Umsetzung von vollständiger Barrierefreiheit im ÖPNV finanziell zu unterstützen. Auch müssen die Möglichkeiten zur fachlichen Begleitung bei der Schaffung von Barrierefreiheit durch die vom Land finanzierte Agentur barrierefrei NRW ausgebaut werden. Das Land muss außerdem seine Möglichkeiten nutzen, um auf eine barrierefreie Umgestaltung im Bahnfernverkehr hinzuwirken.
Verwiesen sei hier abschließend noch auf die vielfachen, auch verbändeübergreifenden Forderungen
insbesondere zur Landesbauordnung und den Technischen Baubestimmungen.
Um das Menschenrecht auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, fordert die UN-BRK ein inklusives Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule und lebenslanges Lernen.
Seit Jahrzehnten werden vielfältige Mängel unseres Regelschulsystems diskutiert, aber greifbare Perspektiven zu ihrer Behebung blieben außer Sicht. Vielfach fehlen nicht nur Räume für zusätzliche Klassen, sondern mancherorts ganze Schulen, Gesamtschulen zumal. So trifft die Forderung nach einem inklusiven Schulsystem in NRW auf ein marodes Regelschulsystem, das auch für Schüler:innen ohne Beeinträchtigung teils kaum zumutbar ist. Land und Kommunen, aber auch der Bund müssen sich endlich der doppelten Herausforderung stellen, das Bildungssystem instand zu setzen und zugleich inklusiv umzubauen.
Diese Zustandsbeschreibung entspricht auch den Darlegungen im Staatenbericht. Darin zeigt sich der Ausschuss besorgt über die unzureichende Umsetzung von Inklusion im gesamten Bildungssystem, die starke Verbreitung von Förderschulen sowie die verschiedenen Barrieren, auf die Kinder und mit Behinderungen und ihre Familien stoßen, wenn sie Regelschulen besuchen wollen.
Insbesondere monierte er
Die Schaffung eines inklusiven Schulsystems bedeutet, die Regelschulen zu befähigen, ihrem Bildungsauftrag mit bestmöglicher individueller Förderung für alle Schüler:innen nachkommen zu können – ob arm oder reich, ob beeinträchtigt oder hochbegabt. Die soziale Selektivität des Regelschulsystems ist maßgeblich Folge der frühen Verteilung der Schüler:innen auf unterschiedliche
weiterführende Schulformen auf Basis von Vermutungen über ihre künftige Entwicklungsfähigkeit.
Stattdessen brauchen wir gut ausgestattete Schulen des gemeinsamen Lernens, die jedem Kind und Jugendlichen mit individuell differenzierter Förderung ermöglichen, sein oder ihr bestmögliches Bildungsziel zu erreichen.
Inklusion überzeugt, wenn Eltern sehen, dass die inklusive Regelschule ein guter Lern- und Förderort
für Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen ist. Dazu müssen Lehr- und Assistenzkräfte auf besondere Bedürfnisse beeinträchtigter Schüler:innen eingehen und ihre Bedarfe decken können. Und die Schulen sowie der Unterricht müssen generell barrierefrei werden. Nach Jahrzehnten zahlreicher wissenschaftlich begleiteter Schulversuche wissen wir gut, wie Inklusion gelingen kann. Im Interesse der künftigen Generationen muss es jetzt darum gehen, die lange überfällige Sanierung und den inklusiven Umbau des Regelsystems anzugehen und die dazu erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren. Der UN-Ausschuss empfiehlt unter anderem die Aufstellung eines umfassenden Plans zur Beschleunigung des Übergangs von Förderschulen zu inklusiver Bildung auf Ebene der Bundesländer und Kommunen (mit Zeitplänen, klaren Verantwortlichkeiten und finanziellen Ressourcen sowie klare Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überwachung).
Die notwendige Reformperspektive heißt inklusive Regelschule und speziell für Gehörlose inklusive
Schwerpunktschulen mit zweisprachigem Unterricht. Den damit verbundenen weitreichenden Herausforderungen müssen sich Land und Kommunen endlich stellen. Mit einem "Aktionsplan inklusive Bildung", der mit den entsprechenden Finanzmitteln und zeitlichen Umsetzungshorizonten unterlegt ist, muss die Landesregierung die Aufgabe endlich systematisch angehen. Der Bund bleibt gefordert, den Modernisierungs- und Umbauprozess zu unterstützen.
Wir sehen Defizite bei der Umsetzung der UN-BRK leider auch im Bereich der Kindertagesstätten. Das NRW-Kinderbildungsgesetz stattet etwa die Kindertageseinrichtungen noch immer nicht so aus, dass sie dem Recht aller Kinder auf eine inklusive Bildung und Erziehung flächendeckend entsprechen können. Hier sei darauf verwiesen, dass es immer noch reine heilpädagogischen Einrichtungen gibt, denen Kinder mit komplexen und mehrfachen Beeinträchtigungen zugewiesen werden, weil sie im Regelsystem nicht angemessen versorgt werden können. Im Bereich der KiTas wird die Forderung der UN-BRK nach inklusiven KiTas nur schleppend im Land Nordrhein-Westfalen umgesetzt. Gerade in diesem Bereich, der politischen Willen zur Umsetzung der UNBRK zeigen könnte, stocken die Verhandlungen zwischen den Leistungserbringern und den Landschaftsverbänden. Ein weiteres großes Problem ist, dass die individuellen Unterstützungsbedarfe der betroffenen Kinder nur teilweise gedeckt oder regelmäßig gar nicht gedeckt werden. Denn es fehlt sowohl an den erforderlichen Räumlichkeiten in den Kindertageseinrichtungen, aber auch am erforderlichen Fachpersonal. An dieser Stelle möchten wir auch die Kommunen in die Pflicht nehmen, die UN-BRK zur Richtschnur ihres Handelns zu machen. Z.B. müssen die Jugendhilfeplaner Kinder mit Behinderungen mit in ihren Fokus nehmen und ihre Bedarfe bei Aus- und Neubauprogrammen mitdenken.
Der Anspruch auf Bildung hört beim Abschluss der Schule nicht auf. Menschen mit Behinderungen
haben ein Recht auf lebenslanges Lernen. Im Kontext der weiterführenden bzw. außerschulischen
Bildung sind seitens des Landes NRW nur unzureichend Maßnahmen für Erwachsene mit Behinderungen geplant und umgesetzt. Einer Bildungsverpflichtung zur inklusiven Erwachsenenbildung
kommt die Landesregierung nicht nach.
Wir fordern daher:
Im Weiteren sei hier unter anderem verwiesen auf die bereits bekannten und weiterhin aktuellen Forderungen des verbändeübergreifenden „Bündnis für inklusive Bildung in NRW“ und den Forderungen des Landesbehindertenrates Inklusive Bildung in NRW: Artikel 24 UN-BRK umsetzen –ein inklusives Bildungssystem als Regelschulsystem aufbauen.
Diese jahrzehntealte Forderung der Behindertenbewegung unterstützen die Abschließenden Bemerkungen, in denen sich der UN-Fachausschuss nicht nur besorgt zeigt über die unzureichenden
Ressourcen der staatlichen Anlaufstellen zur Umsetzung der UN-BRK, sondern auch über die begrenzte Beteiligung von Organisationen der Menschen mit Behinderungen an Umsetzungsprozessen.
Der Ausschuss empfiehlt Deutschland deshalb institutionalisierte Verfahren für eine enge Konsultation mit und aktive Partizipation von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, einschließlich Organisationen von Kindern mit Behinderungen, in allen sie betreffenden Angelegenheiten, zu entwickeln und umzusetzen.
Darüber hinaus empfiehlt der Ausschuss unter anderem:
Die UN-BRK verpflichtet alle staatlichen Ebenen zu engen Konsultationen und aktiver Einbeziehung
der Vertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen bei der Entwicklung und Umsetzung von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften oder anderen Maßnahmen, die sie betreffen. Wir begrüßen, dass diese Anforderung seit 2014 ausdrücklich im Landesrecht verankert ist. Allerdings bestehen noch erhebliche Defizite hinsichtlich ihrer umfassenden und sachgerechten Umsetzung sowohl beim Land als auch auf kommunaler Ebene, die abgebaut werden müssen. Nicht zuletzt sind Beteiligungsverfahren so effektiv, effizient und barrierefrei zu gestalten, dass den Rechten, aber auch den Möglichkeiten und Ressourcen der Betroffenenvertretungen auf allen staatlichen Ebenen Rechnung getragen wird. Dazu gehören auch Maßnahmen zur barrierefreien Zugänglichkeit und Kommunikation wie (im Bedarfsfall) Gebärdensprach- und Schriftdolmetschung für lautsprachlich kommunizierende Ertaubte.
Beauftragte und Beiräte von und für Menschen mit Behinderungen sind auch auf kommunaler Ebene sehr wichtige Instrumente der Partizipation. Dennoch verzichten viele Gemeinden nach wie vor darauf, sie einzurichten. Noch seltener werden die im Landesbehindertengleichstellungsgesetz (2003) vorgesehenen Satzungsregelungen zu den Beteiligungsrechten von Menschen mit Behinderung und ihren Organisationen beschlossen. Daher fordern wir, die bisherige „Kann“-Regelung zur Errichtung von Behindertenbeauftragten und Beiräten von und für Menschen mit Behinderungen in der Gemeindeordnung NRW zu einer verbindlichen Vorgabe zu machen. Darüber hinaus ist in die Gemeindeordnung auch die Verpflichtung zum Erlass von Satzungsregelungen über die Partizipation von Menschen mit Behinderungen aufzunehmen. Wir verweisen hier auf die schon bestehende verbändeübergreifende Forderung „GO NRW – politische Teilhabe stärken“.
Zur Gewährleistung des Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe an Wahlen sieht die UN-BRK die Verpflichtung vor, die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien so zu gestalten, dass sie geeignet, zugänglich sowie leicht verständlich und handhabbar sind. Wir fordern, dass Wahllokale generell barrierefrei zugänglich und nutzbar sein müssen – was o gleichbedeutend mit einem Barriereabbau bei Schulen ist. Auch müssen Informationen zu den Wahlen in Leichter Sprache kostenlos erhältlich und leicht zugänglich sein. Die Parteien sind verantwortlich für die Bereitstellung barrierefreier Informationen über ihre Wahlprogramme.
Die doppelte Benachteiligung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist abzubauen.
Der UN-Fachausschuss äußert in seinen „Abschließenden Bemerkungen“ seine Besorgnis über das Fehlen eines umfassenden intersektionalen Ansatzes, der sicherstellen könnte, dass Themen im Zusammenhang mit Frauen und Mädchen mit Behinderungen in Gesetzgebung und Politik zu Geschlechter- und Behindertenfragen berücksichtigt werden. Es benennt explizit auch Migrantinnen sowie Mädchen mit Behinderungen.
In NRW wird der Auftrag der UN-BRK zur Bekämpfung der mehrdimensionalen Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen als Thema aufgegriffen, z.B. im § 4 Absatz 1 Inklusionsgrundsätzegesetz oder im Aktionsplan NRW inklusiv 2022. Im Aktionsplan wird z.B. im explizit benannten Querschnittsthema „Frauen und Mädchen mit Behinderungen“ u.a. formuliert, dass „deren Belange systematisch Berücksichtigung“ finden und dabei „Bezug auf verschiedene Lebenslagen und Lebensphasen genommen“ wird.
Trotz solcher Festlegungen fehlen in allen Bereichen der Landespolitik die geforderten systematischen und intersektionalen Ansätze, ob in Schule, Ausbildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung,
Migration oder auch im Gewaltschutz. Verfügbare Daten zu vielen unterschiedlichen Bereichen wie Ausbildung, Einkommen, Gesundheitsversorgung oder Gewaltbetroffenheit belegen allerdings weiter für Frauen und Mädchen das negative Zusammenwirken der Faktoren Geschlecht und Beeinträchtigung im Lebensverlauf und die daraus resultierenden geringeren Chancen, ein selbstbestimmtes und sicheres Leben zu führen.
Wir fordern:
Das Recht behinderter Menschen auf ein Leben ohne Gewalt sowie auf Zugang zur Hilfe nach Gewalt ist durch wirkungsvolle Maßnahmen, besonders für Frauen und Mädchen, sowie für Menschen in Institutionen, zu gewährleisten.
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigte sich in den „Abschließenden Bemerkungen“ des Staatenprüfverfahrens zutiefst besorgt über:
Der Ausschuss fordert die Regierung auf, in Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen, besonders solchen, die Frauen und Mädchen vertreten:
Mögen dies im ersten Moment Forderungen an die Bundesregierung sein, so gelten sie doch genauso auch für die Landesregierung.
Zum erhöhten Risiko von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, häusliche oder sexualisierte Gewalt zu erleben, bietet die „Bielefelder Studie“ seit 2013 auch quantitative Daten, zugleich mit alarmierenden Befunden des noch höheren Gewaltrisikos in Einrichtungen. Diese Befunde einer erhöhten Gewaltbetroffenheit wurden seitdem wiederholt bestätigt, verknüpft mit vielen Lösungsansätzen, von einer Landtagsanhörung 2014 über den Teilhabebericht NRW 2020 bis zur Bedarfsanalyse des Hilfeangebotes in NRW von 2021. Dennoch fehlt es in NRW an einer einheitlichen Strategie zum Gewaltschutz. Die bisherigen Maßnahmen der verschiedenen zuständigen Ministerien sind kaum miteinander verbunden. Für Frauen mit Behinderungen oder Pflegebedarf besteht weiter eine Schutzlücke, mit dramatischen Folgen.
Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen erlangte in NRW als Problem erst durch den Wallraff-Bericht von 2017 und die Vorfälle um den Wittekindshof von 2021landespolitische Aufmerksamkeit. Seit Herbst 2022 engagieren wir uns als Organisationen und Verbände im Rahmen der Landesinitiative Gewaltschutz für die Umsetzung der Empfehlungen der Experten-Kommission. Wir sehen uns jedoch mit unklaren Verantwortlichkeiten und mangelnden Ressourcen konfrontiert. Trotz aller Fortschritte nach Aktenlage, von Gewaltschutzkonzepten bis zur Dokumentation freiheitseinschränkender Maßnahmen, erkennen wir kaum faktische Fortschritte bei der Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission und im Schutz vor Gewalt.
Wir fordern:
Pflegebedürftige Menschen zählen zu den behinderten Menschen; die UN-BRK gilt uneingeschränkt auch für sie. Pflege ist eine Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten. Damit gute Pflege gelingen kann, müssen die Rahmenbedingungen für beide Seiten stimmen. In aller Regel wollen pflegebedürftige Menschen zu Hause statt im Heim leben.
Viele dringend notwendige Verbesserungen in der Pflege sind nur im Zusammenspiel von Bund,
Land, Kommunen, Vertretern der Pflegebedürftigen und Pflegendenden, sowie den Pflegekassen
und Pflegeanbietern erreichbar. Die landespolitischen Möglichkeiten, ein solches Zusammenspiel
zu befördern, werden aus unserer Sicht bisher jedoch bei weitem nicht ausreichend genutzt.
Die Frage, welche (vollstationären, teilstationären, ambulanten) Angebote es in welchem Verhältnis vor Ort gibt, entscheidet sich bislang eher nach Rentabilitätskriterien als nach Bedarfen und Bedürfnissen. Aufgrund fehlender bzw. unzureichender Angebote an professioneller Unterstützung in der Pflegetragen pflegende Angehörige die häusliche Versorgung von vier Fünfteln der pflegebedürftigen Menschen in NRW, in gut 70 Prozent der Fälle ganz ohne professionelle Unterstützung. Viele pflegende Angehörige sind durch ihre Pflegearbeit hochgradig belastet.
Das Land NRW muss seine Verantwortung für die Vorhaltung bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen wieder verstärkt wahrnehmen, um insbesondere auf die Schließung von Kapazitätslücken
hinzuwirken. Dazu gehört auch der Einsatz gezielter förderpolitischer Instrumente im Rahmen des Alten- und Pflegegesetzes NRW. Das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) NRW als Ordnungsrecht der Pflege muss die Rechte Pflegebedürftiger umfassend schützen, nicht zuletzt mittels wirksamer jährlicher Kontrollen durch die zuständigen Behörden. Dazu sind die WTG-Behörden (Heimaufsicht) landesweit personell so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben umfassend nachkommen können. Auch muss der Landesausschuss Alter und Pflege in seiner Bedeutung durch die Landesregierung ernster genommen werden.
Wir brauchen quartiersorientierte Versorgungsstrukturen mit vorrangiger Stärkung professionell
gestützter häuslicher Versorgung („ambulant vor stationär“). Die Leistungsansprüche der Versicherten für ambulante Pflegedienste, Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie Betreuungs- und Entlastungsleistungen müssen aber flächendeckend und verlässlich einlösbar sein. Der Strukturwandel von Großeinrichtungen zu kleineren, dezentralen Einheiten in den Quartieren ist konsequent voranzutreiben.
Auch für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in NRW führt die jetzige „Teilkasko“-Pflegeversicherung mit ihren begrenzten Zuschüssen zu den Pflegekosten verstärkt zu hohen privat zu tragenden Kostenanteilen, die vor allem bei stationärer Versorgung das vorhandene Einkommen meist überfordern und ggf. ein Vermögen rasch aufzehren, so dass vielfach Sozialhilfebedürftigkeit eintritt. Damit Pflegebedürftigkeit nicht länger ein Armutsrisiko ist, muss die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung nach dem Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung fortentwickelt werden. Hierfür muss sich die Landesregierung bundespolitisch stark machen.
Die Organisation eines tragfähigen häuslichen Pflegearrangements stößt nicht selten auf die
Schwierigkeit, dass dazu eine Mehrzahl von Unterstützungsangeboten bedarfsgerecht kombiniert
und finanziert werden muss. Wir brauchen eine quartiersnah verfügbare und überschaubare Infrastruktur unabhängiger Pflegeberatung ohne einseitige Bindung an Kostenträger oder Leistungserbringer. Die Beratung einschließlich Fall-Management muss stets Kostenträgerübergreifend erfolgen. Nicht nur in diesem Zusammenhang müssen auch die Kommunen ihrer Sicherstellungsverantwortung für Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige sowie für komplementäre ambulante Dienste nach dem Alten- und Pflegegesetz NRW endlich umfassend nachkommen.
Der Mangel an Pflegefachkräften betrifft ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen sowie
Krankenhäuser. Solidarische Strategien für gleichermaßen gute Arbeits- und Entgeltbedingungen
müssen einen Abwerbe-Wettbewerb zwischen den drei Sektoren verhindern. Die Kapazitäten der Pflegeausbildung sind zu erhöhen, nicht zuletzt durch eine verstärkte Ausbildung qualifizierter
Pflege-Lehrkräfte.
In der Ausbildung und Fortbildung müssen der Umgang mit und die Bedarfe der Menschen mit Behinderungen mehr geschult werden.
Eine vorausschauende Pandemieplanung muss verhindern, dass Pflegeheime nochmals zu Höchstrisikoorten werden, die Pflegebedürftige in menschlich kaum erträgliche Isolation zwingen.
Wir fordern, dass mehr Menschen mit Behinderungen über die Möglichkeiten der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe durch das persönliche Budget informiert und bei der Umsetzung dieses Wunsches unterstützt werden, vgl. § 106 SGB IX. Das persönliche Budget ermöglicht es den Leistungsberechtigten, in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies bedeutet aus unserer Sicht gerade auch, dass die betroffenen Personen sowohl bei der Beantragung wie auch später bei der konkreten Anwendung des Budgets Unterstützung auch in Form von Assistenzleistungen erhalten. Hier ist das Land im Rahmen seiner Möglichkeit gefordert, sich für die Ausweitung des persönlichen Budgets einzusetzen.
Zur vollständigen Teilhabe am sozialen Leben gehört gerade auch der Freizeitbereich. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Sie müssen die Möglichkeit haben, an Veranstaltungen und Angeboten ihren Wünschen und Interessen gemäß partizipieren zu können. Hierbei bedarf es unserer Ansicht zum einem die Gewährung entsprechender Assistenz- und Hilfsmittel zur selbstbestimmten Teilnahme und Mitwirkungen. In diesem Kontext fordern wir eine nachhaltige und stabile Finanzierung von Unterstützungsleistungen für die Freizeitgestaltung sowie die Förderung des Ehrenamtes als eine wesentliche Säule der Unterstützung und der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen. Zum anderen fordern wir eine stärkere Sozialraumorientierung seitens der Leistungserbringer und Leistungsträger der Eingliederungshilfe, hin zur mehr Kooperation mit regionalen / kommunalen Anbietern von Angeboten der Freizeit und Kultur.
Das Land NRW ist aus unserer Sicht im Bereich von Kindheit und Jugend gefordert, mit klaren gesetzlichen Regelungen den Forderungen der UN-BRK nachzukommen und so die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen.
Wir fordern daher in Abänderung von § 1 Abs. 2 AG SGB IX NRW eine altersunabhängige Zuständigkeit auch für ambulante Eingliederungshilfen zugunsten junger Menschen.
Außerdem sehen wir das Land in der Pflicht, den Bedarf bis zur Reform des SGB VIII zu befriedigen.
Wir fragen uns, ob die 186 Jugendämter des Landes ausreichend auf die große, inklusive Lösung des SGB VIII ab dem 1. Januar 2028 vorbereitet sind und ob sie ab dann auch in der Lage sein werden, den Kindern mit Behinderung die bedarfsgerechte Unterstützung zukommen zu lassen. Dies wäre die Mindestvoraussetzung, um der Forderung der UN-BRK nach der selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen am gemeinschaftlichen Leben nachzukommen.
Wir fordern das Land gem. § 78a Abs. 2 SGB VIII auf, für einen landeseinheitlichen Umgang mit Ansprüchen auf ambulante Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII zu sorgen, rechtzeitig die Implementierung des inklusiven SGB VIII und die Zusammenführung zweier komplexer Systeme zu begleiten und zu steuern sowie landeseinheitlich Verfahrenslotsen nach §10 SGB VIII zu etablieren.
Unsere Forderungen müssen, zusammen mit den Ergebnissen der Staatenprüfung durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, als Grundlage für die zukünftige Inklusionspolitik in NRW gesehen und unter enger Einbindung von Menschen mit Behinderungen
umgesetzt werden. Es besteht aus unserer Sicht dringender Handlungsbedarf, wenn bis zur nächsten Staatenprüfung im März 2031 echte strukturelle behindertenpolitische Veränderungen erreicht werden sollen. Arbeitsausschuss Hilfen für Menschen mit Behinderungen der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW
Düsseldorf, den 25.04.2024