„Es tut weh, sagt das Herz, es wird vergehen, sagt die Zeit. Aber ich komme wieder, sagt die Erinnerung. Vergessen wir das nicht.“ Ergreifende Rede von Bärbel Brüning, Landesgeschäftsführerin der Lebenshilfe NRW, anlässlich der
Feier „Lichter der Erinnerung“ zum fünften Jahrestag der Gedenkstätte
Waldniel-Hostert für die Opfer der NS-Pyschiatrie am 23. August.
Mein Name ist Monika Spona-L‘herminez.
Ich bin die erste Selbstvertreterin
im Landesvorstand der Lebenshilfe NRW.
Außerdem bin ich im Lebenshilfe Rat NRW und
im Lebenshilfe Rat der Lebenshilfe Viersen.
Ich bin selbst Betroffene, da ich eine Behinderung habe.
Ich wäre ein Opfer gewesen.
Trotz meiner Einschränkung führe ich ein ganz normales Leben
und bin verheiratet.
Heute lassen wir die Lichter der Erinnerung leuchten,
damit wir die ermordeten Kinder nicht vergessen.
Das darf nie wieder passieren.
Monika Spona-L’herminez
Sehr geehrte Damen und Herren, viele wichtige Worte wurden schon gesagt.
In Vorbereitung auf diese Gedenkfeier, stellten sich mir vor allem Fragen. Welche Rede lässt sich halten beim Gedenken an ermordete Kinder? Gibt es Worte, mit denen Sprachlosigkeit angesichts dieser Greueltaten ausgedrückt werden kann? Gibt es Worte, die nicht zu Floskeln oder Schlagwörtern werden? Gibt es Worte für entsetzliche Verbrechen, für entsetzliche Angst, Verzweiflung, Trauer?
Ich habe keine richtigen Worte, aber ich weiß, dass wir trotzdem und gerade deshalb immer wieder
Worte finden müssen. Vielleicht auch heute wieder mehr, denn es droht die Relativierung eines
Mordens, von dem wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass es durch Menschen geschah und damit menschenmöglich ist.
Die meisten Menschen in Deutschland und Europa haben nach dem Krieg nicht viel über den Mord an den Juden und Millionen Nicht-Juden nachgedacht. Sie waren beschäftigt mit ihren ganz eigenen Sorgen. Ihr eigenes Leid stand im Mittelpunkt und sie wollten zunächst alles Schlimme vergessen.
Es dauerte lange, bis Menschen sich erinnern wollten oder konnten. Die Grausamkeiten wurden lange nach dem Krieg deutlich: Unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit wurden viele andere Menschen getötet. Darunter auch Menschen mit geistiger Behinderung, die ebenso wie viele andere Menschen mit Behinderung zuvor grausamen medizinischen Versuchen ausgesetzt waren.
Es ist wichtig, die Zeitzeugen nicht zu vergessen. Es leben nicht mehr viele, aber sie sind die einzigen, die wahrhaftig sagen können, was war. So wie wir heute sagen, dass Menschen mit unterschiedlicher
Behinderung Experten in eigener Sache sind und dass wir aufhören sollen, über sie zu sprechen, sondern mit ihnen sprechen müssen und ihnen vor allem Raum geben, dass sie selbst erklären, wie sie die Welt erleben und welche Art der Assistenz sie brauchen.
Ich möchte Ruth Klüger zitieren, die als Kind in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz
war und das überlebt hat. Sie ist im Oktober 2020 gestorben, aber sie hat uns als Schriftstellerin vieles hinterlassen und sagte von sich selbst, dass ihr das Gedichte schreiben geholfen hat, zu überleben.
Zu ihrer Kindheit in den Konzentrationslagern sagte sie: „Viele meinen, Kindern war gar nicht klar, was geschah.“ Aber: „Wir Kinder waren hellwach, vielleicht nie wieder so hellwach wie damals. Während und nach dem Krieg“, führte Ruth Klüger weiter aus, „hat man die Ermordung einer ganzen nichtpolitischen
Zivilbevölkerung wenn nicht beiseitegeschoben, so doch irgendwie komprimiert, vielleicht, weil der Gedanke unerträglich war, aber vielleicht auch, weil man mit Trauer über die Gefallenen und mit Stolz über die Politischen, die Widerstandskämpfer im KZ, reden konnte.“
„Vergessen“, „erinnern“, „verzeihen“ seien die Wörter, „die uns immer einfallen, wenn wir über das Gedenken an die Shoah sprechen“, sagte Ruth Klüger. Aber nicht nur der Einzelne, auch eine Gesellschaft kann Teile ihrer Vergangenheit verdrängen. Der Versuch, das Geschehene zu vergessen, gelinge nicht, weil das, was geschehen ist, nicht verschwindet, „es geistert nur“, formulierte die Autorin.
Man leugnet und verdrängt, womit man nicht fertig wird, schiebt es beiseite, das Beiseitegeschobene bleibt aber „nachbarlich anwesend“. „Unzählige tapfere Menschen haben gefährdete Kinder gerettet und verdienen es, dass wir sie ehren und feiern, aber eine Welt, in der ein Kind leben bleibt und
neunhundertneunundneunzig Kinder mit voller Absicht ermordet werden, eine solche Welt ist nicht ‚gerettet‘“, hielt Ruth Klüger entschieden fest.
Denn, so sagte Klüger: „... Unwissenheit erklärt die Handlungsweise der Täter nicht, denn sie hatten ein relativ hohes Bildungsniveau. Sie waren keine Analphabeten und hatten entweder eine religiöse oder eine humanistische Erziehung gehabt, die leider nicht standhielt. Dass sie aus einer Gesellschaft kamen, die fünfzehn oder zwanzig. Ist das heute auch denkbar? Nun, wir hoffen nicht. Doch die Zahl der Demonstrationen von Neonazis in unserem Land hat sich in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr verdreifacht.
Im Juli haben Unbekannte am Bahnhof Neubrandenburg eine Regenbogenflagge gestohlen und stattdessen eine verbotene Hakenkreuzfahne gehisst. Beim CSD in Straubing mischten sich
Rechtsextreme unter die Pride-Teilnehmer, bedrohten diese mehrfach und schwenkten die „Reichskriegsflagge“.
Einzelfälle? Ja, aber an zu vielen Orten und mit zu viel echter Überzeugung der Täter. Der Hass richtet
sich heute insbesondere gegen Muslime und immer wieder gegen Juden, aber auch gegen Menschen
mit einer anderen sexuellen Orientierung. Viele Menschen mit Behinderung berichten von Erfahrungen
der Diskriminierung.
Es ist wichtig aufzuklären, was hinter dieser Sprache steckt, welche Konsequenzen es hat und entgegenzuhalten, was wir wollen und zu begründen, weshalb wir in einer „solidarischen Gesellschaft“ leben wollen, in der jede und jeder seinen gleichwertigen Platz hat. Wir wollen nicht nur sprichwörtlich „noch in den Spiegel schauen“, sondern wir wollen uns auch von Mensch zu Mensch ins Gesicht sehen können mit der festen Überzeugung: Wir sind alle gleich wert und jeder Mensch hat seine ganz eigene Würde.
Die rechtsextreme Szene in Deutschland macht mobil. Wir müssen Grenzen aufzeigen und wir müssen unseren Beitrag leisten, dass es nicht zu noch mehr Wut und Hass kommt. Wir müssen aber auch
überzeugen mit Worten und Taten, dass eine inklusive Gesellschaft gut für alle ist, dass wir Probleme angehen und zeigen, was geht und verbessern, was (noch) nicht gut ist. Tun wir dies aus Überzeugung und im Gedenken an die Menschen, die bitter erfahren mussten, was es heißt, wenn sich Menschenhasser zusammentun.
Mit dieser Gedenkveranstaltung heute kommen wir den ermordeten Kindern nahe. Welche Schmerzen,
welche Ängste und welche Verzweiflung haben die Kinder ausgestanden? Es ist nicht vorstellbar.
Mit den Lichtern bringen wir unsere düstere Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht und
können in Gedanken jedes einzelne Kind vor uns sehen. Mit den Namen rücken wir die Würde und Persönlichkeiten der Millionen getöteten Menschen, und heute hier besonders der 99 Kinder, die in der Anstalt an diesem Ort lebten und grausam getötet wurden, in den Mittelpunkt. Sie erinnern uns und mahnen uns auch, dass wir ernst machen mit dem viel Gesagten „nie wieder!“.
Mit jedem Licht, mit jedem Namen, lassen wir ihr Mensch-Sein bewusstwerden. Es tut weh, sagt das
Herz. Es wird vergehen, sagt die Zeit. Aber ich komme immer wieder, sagt die Erinnerung. Vergessen
wir das nicht.
Von Bärbel Brüning, Landesgeschäftsführerin der Lebenshilfe NRW.