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Ausgabe 4/2020 & Ausgabe 1/2021

„Kommt mal zu uns, wir zeigen es euch“

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Franz Müntefering
Franz Müntefering
© Verena Weiße / Lebenshilfe NRW

Von Verena Weiße

Franz Müntefering ist ein Politiker vom alten Schlag. Der 80-Jährige blickt auf eine außergewöhnliche politische Karriere zurück: Vizekanzler, Bundesminister für Arbeit und Soziales, ehemaliger SPD-Vorsitzender, um nur einige Stationen zu nennen. Nach 33 Jahren als Abgeordneter im Deutschen Bundestag zog Franz Müntefering sich 2013 mit 73 Jahren aus der aktiven Politik zurück. Politisch engagiert ist er bis heute. In verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen als Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) und als Chef der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation (BAGSO) beeinflusst der gelernte Industriekaufmann das gesellschaftliche Leben. 2018 wurde Franz Müntefering mit dem Preis Pro Ehrenamt des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ausgezeichnet. Mit dem Lebenshilfe journal sprach Franz Müntefering über die Wichtigkeit des Ehrenamtes und über die Idee, wie man auch junge Menschen für ehrenamtliches Engagement begeistert.

Lebenshilfe journal: Warum ist ehrenamtliches Engagement aus Ihrer Sicht so wichtig?

Franz Müntefering: Helfen und sich helfen lassen ist das wichtigste Motiv für gemeinschaftliches Zusammenleben. Wir sind alle aufeinander angewiesen. Manchmal gibt es in unserer Gesellschaft die Arroganz, dass Menschen denken, sie bräuchten keine Hilfe und selbst wollen sie sich auch nicht ehrenamtlich einsetzen. Das ist falsch. Wir alle brauchen Hilfe und wir alle können auch helfen, mit unterschiedlichen Möglichkeiten. Es ist wichtig, dass wir den Menschen vermitteln, dass wir aufeinander angewiesen sind. Es hat sich in der Corona-Zeit an einigen Stellen besser gezeigt, als ich vermutet hatte. Ich habe von vielen gehört, dass Menschen einander geholfen haben. Beim Ehrenamt sollte es in den Verbänden eine hauptamtlich qualifizierte Führung geben, um die sich die ehrenamtliche Arbeit gruppiert. Da reicht nicht das gute Herz, man muss es auch gelernt haben. Schätzungen zufolge sind in Deutschland zwischen 20 und 30 Millionen Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen ehrenamtlich tätig, beim Sport, in der Kirche, in den Vereinen, in den Verbänden. Wenn alle Ehrenamtlichen die Arbeit an einem Tag niederlegen würden, wäre die Arbeitsqualität in Deutschland hinfällig. Es sollte auch dafür gesorgt werden, dass der Sprung in die nächste Generation gelingt. Ich habe mit dazu beigetragen, dass die Bundesregierung das realisiert hat, was der Bundestag beschlossen hat: die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt einzurichten. Ohne das Ehrenamt im Großen geht es in der Gesellschaft nicht.

Was muss Ehrenamt bieten, um junge Menschen dafür zu begeistern?

Es wäre gut, wenn junge Menschen zukünftig stärker als bisher die Chance hätte, sich die ehrenamtliche Arbeit vorab anzuschauen. Ich kenne eine Reihe junger Menschen, die damals beim Zivildienst mit verschiedenen Vorbehalten angefangen haben. Nach dem Motto: Was soll ich bei den Alten. Nach einem halben Jahr haben sie gemerkt, dass es vielleicht ein Job für sie ist und angefangen, sich um die Menschen zu kümmern. Diese Arbeit musst du erleben. Wenn du sie nicht erlebst, stehst du dem Job mit einer gewissen Fremdheit gegenüber und traust dich nicht. Ich weiß noch, als meine Mutter krank war – sie hatte schweres Rheuma. Ein Zivi von der AWO kam und sollte helfen, sie anzuziehen. Anfangs wusste er nicht, wo er anpacken sollte. Aber nachdem er das zehnmal gemacht hatte, klappte das auch und er sah den Menschen, für den er das gemacht hat. Die Praxis erleben, in der Praxis begeistern. Den Leuten sagen, kommt mal zu uns, wir zeigen es euch, einfach mal mitmachen. Da kann die Lebenshilfe, aber auch die neue Stiftung mithelfen. Wenn man den Kommunen einige 1000 Euro im Jahr gibt, damit sie Jugendliche einladen, Ehrenamt kennenzulernen. Da sollte sehr unkompliziert herangegangen werden. So zeigt man den jungen Leuten, dass diese Arbeit wichtig ist.

Aus Erfahrung der Lebenshilfe NRW ist es schwierig, Ehrenamtliche für Menschen mit Behinderung zu gewinnen. Haben Sie Erfahrungen?

Ich kenne die Lebenshilfe und deren Bundesvorsitzende Ulla Schmidt und natürlich auch Robert Antretter, den ehemaligen Bundesvorsitzenden. Ich schätze die Lebenshilfe. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Das ist die Grundlage, wenn wir das bänden eine hauptamtlich qualifizierte Führung geben, um die sich die ehrenamtliche Arbeit gruppiert. Da reicht nicht das gute Herz, man muss es auch gelernt haben. Schätzungen zufolge sind in Deutschland zwischen 20 und 30 Millionen Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen ehrenamtlich tätig, beim aufgeben, funktioniert nichts mehr. Gleichwertigkeit der Menschen ist das Entscheidende in unserer Demokratie. Das gilt auch für Menschen
mit Behinderung und für demente Menschen. Das sind keine Fälle, es sind alles Menschen. Und wenn man sich anschaut, wie viele Menschen mit Behinderung anderen Menschen Glück bringen. Alle sind gleich, mit unterschiedlichen Talenten ausgestattet. Das Einteilen von Menschen nach ihren Fähigkeiten ist ein großes Problem. Die Gesellschaft sollte sich darum kümmern und Wege finden, individuelle Lösungen für die Menschen zu schaffen, die Betreuung brauchen.

Franz Müntefering
Franz Müntefering
© Verena Weiße / Lebenshilfe NRW

Sie schreiben in Ihrem Buch „Unterwegs: Älterwerden in dieser Zeit“, dass Dinge gestaltbar sind, abhängig von der Bereitschaft zum Engagement und vom Mut zum Handeln. Was ist für Sie die zentrale Botschaft?

Die drei Ls sind mir wichtig: Laufen, Lernen, Lachen. In Bewegung und miteinander in Kontakt bleiben. Ein Viertel der Bevölkerung ist über 60. Es kommt darauf an, dass das Leben noch lebenswert ist. Wie funktioniert das Älterwerden in dieser Zeit. Manchmal verbindet sich das Älterwerden mit der Behinderung. Es ist nicht egal, wie Menschen älter werden, sondern es ist ganz wichtig für ihr eigenes Leben, ein gutes Alter zu haben und mit anderen Menschen in Kontakt zu sein. Da kann jeder Einzelne zu beitragen.

Wie kann das erreicht werden?

Die Menschen müssen eine Aufgabe haben, sie sollten einen Sinn in ihrem Leben sehen. Mit dem Kopf darf man nicht zu früh aufgeben. Keiner ist gegen Demenz gefeit. Es hängt auch vom Lebensstil ab, von der Art, wie man lebt. Hirnforscher Gerald Hüther beschreibt in seinem Buch ausführlich einen Test, der mit Nonnen gemacht wurde. Dabei kam heraus, dass Einsiedler seltener dement werden. Nach dem
Tod der Nonnen wurde ihr Gehirn untersucht. Die Untersuchung lief über zwei Jahrzehnte. Das Gehirn
war genauso verformt, wie bei allen anderen, es konnte aber keine Erkrankung festgestellt werden. Das
liegt laut Hüther an zwei Dingen:

Die Nonnen haben eine Aufgabe, alle stehen um 5 Uhr auf und arbeiten. Und sehen durch ihren Glauben
einen Sinn im Leben. Das Interessante dabei ist, dass sich im Gehirn neue Wege bahnen können, anders als bei Muskeln, die im Alter weniger werden. Es findet sich neue Umwege. Es gibt ein schönes Sprichwort, das wir Alten immer sagen: Wir sind nicht mehr so schnell wie die Jungen, aber wir kennen die Abkürzungen. Das ist kein Versprechen, dass man Demenz verhindern kann. Gerald Hüther sagt, es kommt auf den Lebensstil an. Man sollte zugange bleiben. Bei mir konzentriert sich alles auf das Thema Älterwerden in dieser Zeit. In diesem Thema sind alle Aspekte enthalten.

Auch Menschen mit Behinderung wollen so lange wie möglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben und nicht vereinsamen. Was denken Sie dazu?

Ja, für alle Menschen ist Mobilität besonders wichtig. Dazu bin ich unterwegs und überlege, wie man die verbessern kann. Das sollte in der Wohnung anfangen. Wir hatten 2019 in Deutschland mehr als doppelt so viele Todesfälle durch Stürze in der Wohnung als im Straßenverkehr. Was ist passiert? Die Leute sind körperlich nicht mehr fit, bewegen sich nicht, machen keine Gymnastik. Die Tür zum Bad ist zu schmal, der Rollator passt nicht rein, die Leute fallen, liegen hinter der Türe, die nach innen aufgeht. Die Badewanne ist die Falle Nummer eins. Am besten schafft man sich eine ebenerdige Sitzdusche an. Auch Wendeltreppen, die an der Außenseite kein Geländer haben, sind gefährlich. Der dickste Hammer ist der Teppich. „Wir haben den schönsten Teppich überhaupt, der bleibt.“ Der kann ja bleiben, aber nagelt ihn an die Wand. Auch in der Stadt gibt es Stolperstellen für Senioren, die beseitigt werden sollten. Das Thema Mobilität stellt ein großes Problem dar, z.B. wenn es um Führerscheine von Männern geht. Es ist nicht so leicht sich einzugestehen, dass man eigentlich nicht mehr fahren kann. Zwei Beispiele.
Papa war dement. Papa dürfte eigentlich kein Auto mehr fahren. Das akzeptierte er nicht. Bei dem einen
Ehepaar konnte die Frau fahren, bei dem anderen nicht. Das nächste Geschäft war drei bis vier Kilometer entfernt. „Was macht ihr denn jetzt?“ „Ich setze mich vorne daneben und er fährt langsam.“ Das geht
so nicht. Aber den Führerschein freiwillig abgeben, ist eben auch nicht so leicht. Dann aber vernünftig.
Und Einkaufen ist ein Kulturgut. Ich habe genug Zeit, jetzt in Herne mal in die Geschäfte zu gehen. Morgens um 11 Uhr und nachmittags um 16 Uhr lohnt sich das am meisten. Da stehen Grüppchen zusammen und erzählen über alles. Das ist klassischer Markt. Und das ist ein wichtiger Austausch. Ein weiteres Problem sind die Bus- und Bahnverbindungen im ländlichen Raum. Da gibt es große Lücken. In kleinen Orten gibt es die Bürgerbusse, die Senioren nutzen können, um von A nach B zu kommen. Ich habe mir das in Unkel mal angeschaut. Das ist eine tolle Sache.

Vermissen Sie manchmal die aktive Politik, nicht mehr aktiv ins Geschehen eingreifen zu können?

Ich würde nicht sagen, dass ich keine Politik mehr mache. Denn das ist ein Missverständnis von Politik. Meistens wird Politik verstanden als etwas staatlich Verfasstes. Aber was Lebenshilfe und ich machen, ist beides Gesellschaftspolitik. Gesetze machen ist das eine, die konkrete Umsetzung in den Kommunen das andere.

Vielen lieben Dank, Herr Müntefering, für das sehr interessante Gespräch. Es war sehr aufschlussreich.

Ich wünsche Ihnen viel Kraft für Ihre Aufgabe. Ich sehe die vielen Aktivitäten der Lebenshilfe wirklich mit großer Sympathie. Sie helfen unglaublich vielen Menschen ganz konkret. Und das ist so wichtig. Als Politiker hat man es auch nicht immer leicht in dem Geschäft. Aber das auszuhalten, wenn der Einzelne mit der Aufgabe fertig werden muss, ist schon etwas anderes.

Franz Müntefering
Franz Müntefering
© Verena Weiße / Lebenshilfe NRW

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